
1 Besuch
Schon seit den frühen Morgenstunden regnete es. Die Stadt schien wie ausgestorben. Niemand würde an einem solchen Tag freiwillig einen Fuß vor die Tür stellen. Doch wer glaubte, der 15. Juli 1998 sei ein unbedeutender, ereignisloser Tag, der irrte.
Flanka Svenson schob einen Topf mit Wasser auf den Gasherd, als es an ihrer Wohnungstür klingelte. Es war ein lang andauernder Ton, der keinen Widerspruch duldete. Flanka nahm den Topf vom Herd und drehte den schwarzen Schalter in die Senkrechte. Wie aufgeschreckte Mäuse verschwanden die kleinen Flammen in ihren Löchern. Draußen zerrte ein scharfer Wind an den Ästen der Pappel, die direkt vor ihrer Wohnung stand, und auf dem Fensterglas rutschten Regentropfen im Zickzack nach unten, als wären sie betrunkene Käfer. Auf Besuch war Flanka nicht eingestellt. An solchen Tagen liebte es Flanka, sich mit einer Wolldecke in ihren alten Ledersessel zu verkriechen, heißen Tee zu trinken und Geschichten zu lesen, die von der Weite des Meeres handelten. Jene Weite, die sie schon als Kind fasziniert hatte, wenn sie mit ihrem Vater am Strand stand und staunend in eine Welt blickte, die nur aus Wasser und Himmel bestand. Es klingelte ein zweites Mal.
»Ich komme ja«, rief Flanka missmutig und versuchte ihre Füße, an denen sie je zwei Wollsocken trug, in ihre Filzpantoffel zu stecken. Weiter als bis zum Ende des großen Zehs kam sie jedoch nicht. Sie schlurfte durch den langen Flur und drückte die dünne Metallklinke nach unten. Vor der Tür stand ein großer Mann mit einem stattlichen Bauch und einem Kopf, der an ein Hühnerei erinnerte. »Guten Tag Frau Svenson, kennen Sie mich noch?«, fragte der Mann, bevor Flanka etwas sagen konnte. Nachdenklich betrachtete Sie den abendlichen Besucher, der ihr nicht unbekannt vorkam, von dem sie aber nicht wusste, wo genau sie ihn schon mal gesehen hatte. Der Mund des Mannes zog sich in die Breite; an den äußeren Enden der Augen bildeten sich kleine Fältchen und die grauen, struppigen Augenbrauen wölbten sich nach oben. Der Mann lächelte.
»Ich bin es, Jonny Naragossa. Der alte Kapitän aus dem Seemannsheim – unten an den Landungsbrücken. Erinnern Sie sich?«
Flanka erinnerte sich. Das Seemannsheim war ein roter, schmuckloser Backsteinbau, den man, wenn da nicht ein Messingschild mit Anker neben der Glasflügeltür angebracht wäre, für ein Finanzamt halten könnte. In der Eingangshalle hing ein großes Ölgemälde, auf dem ein schwarzes Dampfschiff durch dunkelblaue Wellen stampfte. Davor stand ein mit grünem Breitcord bezogenes Sofa. Auf ihm hatte ein großer Mann gesessen, die Beine übereinandergeschlagen, unentwegt süßen Pfeifenqualm in die Luft paffend – Kapitän Jonny Naragossa. Ja, das muss ungefähr vier Wochen her gewesen sein, überlegte Flanka. Sie hatte für eine Reportage über Kapitäne im Ruhestand recherchiert. Neben einem Job als Barkassenfahrerin arbeitete Flanka als Reporterin für die Abendpost. Sie war für die Geschichten aus dem Hamburger Überseehafen zuständig. Eine kräftige Windböe drückte den Regen gegen die Hauswand. »Darf ich reinkommen?« In Jonny Naragossas Stimme schwang ein wenig Ungeduld mit…
2 DAS ZIMMER
Der Geruch, der in Flankas Nase strömte, war eine Mischung aus Bohnerwachs und billigem Pfeifentabak. Er schien fester Bestandteil des Treppenhauses zu sein, so, wie die tropfenförmigen Lampenschirme unter der Decke, die verblassten Leuchtturmfotos in billigen Plastikrahmen und der abgegriffene Handlauf des Holzgeländers. Immer bemüht, kein Geräusch auf dem glatten Boden zu verursachen, stieg Flanka die grauen Linoleumstufen empor. Direkt vor ihr stapfte Kapitän Jonny Naragossa, schwankend, das Gewicht von einem auf den anderen Fuß verlagernd, durch das Treppenhaus des Seemannsheimes. Als er die letzte Stufe erreicht hatte, blickte der Kapitän kurz nach rechts, dann nach links und deutete anschließend mit dem ausgestreckten Zeigefinger in den Gang direkt voraus.
»Sind sie sicher, dass wir hier nachts so einfach reinspazieren können, ohne dass uns jemand entdeckt?«, erkundigte sich Flanka mit gedämpfter Stimme. So richtig wohl fühlte sie sich bei der Sache nicht, obwohl es ihre eigene Idee gewesen war, noch am selben Abend dem Zimmer von Murowski einen Besuch abzustatten. Da man von einem Unfall ausging, hatte die Polizei zwar keine Ermittlungen aufgenommen, aber man konnte ja nicht wissen, wer sonst noch ein Interesse haben könnte, in dem Zimmer des Toten rumzuschnüffeln…
5 MUSCHI-CLUB
Es war ruhig geworden in den Bars und Clubs auf St. Pauli. Früher, als die Frachtschiffe zum Löschen der Ladung noch sehr lange im Hamburger Hafen lagen, versoffen die Matrosen ihren Verstand in übelriechenden Spelunken, verzockten die Heuer beim Kartenspiel, verliebten sich Hals über Kopf in leicht bekleidete Bardamen und heulten sich anschließend bei den Puffmüttern aus, wenn die Nutten ihnen den letzten Geldschein abgeluchst hatten.
Seit die Schiffe an computergesteuerten Containerterminals abgefertigt werden, zählt im Hafen jede Minute. Oft reichen wenige Stunden, um sogar einen Ozeanriesen zu entladen. Immer seltener haben vergnügungssüchtige Matrosen Zeit, der sündigen Meile einen Besuch abzustatten. Auch im Muschi-Club war nur noch dann richtig etwas los, wenn mal wieder ein amerikanisches Kriegsschiff für ein paar Tage in Hamburg festmachte.
Flanka und Rosi folgten einem mit farbigen Neonröhren beleuchteten Gang, der nach ungefähr 10 Metern einen scharfen Knick nach rechts machte. Der Muschi-Club befand sich in dem hinteren Teil des Gebäudes. Wände und Decke des Zuganges waren mit einem Teppich beklebt, der aussah wie ein rotes zotteliges Teddyfell. In einer Glasvitrine hingen, neben der Getränkekarte, Fotos, auf denen Frauen zu sehen waren, die nichts anhatten außer einer roten Katzenmaske. Es klimperte hell, als die Dänin und der Kapitän durch einen Vorhang aus schwarzen Perlen die Bar betraten. Hinter dem Vorhang war das Licht dunkler, die Luft heißer und die rauchige Stimme einer französischen Chansonsängerin schwebte durch den Raum. Flanka blickte sich um. Nur wenige Tische waren besetzt. An der langen Theke lehnte ein einsamer Gast. Es war ein knochiger Mann, der ein halb volles Glas Pils in der Hand hielt. Gestenreich diskutierte er mit dem Barhocker links neben sich, auf dem jedoch niemand saß. Hinter dem Tresen ließ eine Blondine Sekt in schlanke Gläser perlen…
6 Der Plan
Die Ankerkette der Bosten Carrier rasselte in die Tiefe. Langsam trieb der Frachter rückwärts, bis die Kette stramm kam. Dann schwenkte er seinen Bug in Windrichtung.
»Go Mister Kapitän, go, we bring you to beach”, Mustafa kramte seine spärlichen Englischkenntnissee hervor und fuchtelte mit dem Maschinengewehr vor Kapitäns Keelys Gesicht herum. Der Kapitän und der Pirat stiegen die Metalltreppe runter aufs Deck.
Abdulrachid stand alleine auf der Brücke und betrachtete den nicht enden wollenden Schiffsrumpf. Er war noch nie auf so einem großen Schiff gewesen. Und er hatte es gekapert. Er war in voller Fahrt an der Bordwand hochgeklettert. Er hatte die Strickleiter festgebunden. Er fühlte sich mächtig und stark. Er, der Junge aus dem kleinen Fischerdorf bei Bosaso, hatte den reichen weißen Männern ein Schiff gestohlen.
»Hey, Abdulrachid träum hier nicht rum. Mach, dass du ins Schlauchboot kommst, wir wollen los.« Ali betrat die Brücke und stieß Abdulrachid in den Rücken, dass es schmerzte.
Der Schweiß rann den Männern das Gesicht herunter, als sie das Schlauchboot an Land zerrten und es anschließend auf einen rostigen Lastwagen luden. Sie wollten es einige Kilometer weit im Landesinneren verstecken. Es an der Küste zu lassen, war zu unsicher. Die Polizei oder irgendwelche Milizen könnten es entdecken.